Interview mit Yevheniya Motorevska | Juli 2022


Artikel Nr. 2, Juli 2022

Interview mit Yevheniya Motorevska, Chefredakteurin von hromadske.ua

Von Olena Sadovnik

Zhenia, an welches Ereignis aus den vergangenen 150 Kriegstagen erinnerst Du Dich am besten?

Es war die Reise von Ksiusha Savoskina nach Kremenchuk, wo eine russische Rakete das Einkaufszentrum getroffen hatte. Es gab damals viele Emotionen, wir mussten sehr schnell hinfahren und vereinbarten, dass wir Video- und Textmaterial machen würden. Ksiusha rief aber aus Kremenchuk an und sagte, dass sie die Frau mit der Kamera nicht habe filmen können, die den ganzen Tag damit verbrachte, nach ihrer Tochter zu suchen, die in diesem Einkaufszentrum geblieben war. Sie dachte, ich würde sie deswegen kritisieren. Ich sagte ihr: „Ksiusha,, ich verstehe dich sehr gut und bin mir nicht sicher, ob ich das machen könnte“. Für mich war das ein Indikator für Ethik und Professionalität, denn es gibt Dinge, die trotz Clickbait nicht mit der Kamera aufgenommen werden sollten. Im Allgemeinen ist es für ukrainische Journalisten viel schwieriger, mit menschlichen Geschichten zu arbeiten als mit ausländischen, weil das unsere Tragödie ist. Das Menschliche überwiegt, man kann sich nicht abstrahieren, als wäre man in einem anderen Land.

Rettungskräfte beseitigen Trümmer nach einem Brand im Einkaufszentrum in Krementschuk, Region Poltawa. 
Foto: Oleksii Nikulin / hromadske

Derzeit arbeiten wir an einem Projekt über das Stahlwerk Azovstal [Werk in Mariupol, das während des Flächenbombardements durch Russland zum Symbol der Unbesiegbarkeit wurde, die Redaktion]. Wir erstellen eine spezielle Webseite, auf der wir die Geschichten der Gefangenen sammeln, die Geschichten der Toten, die Geschichten der Personen, die zurückkehren konnten.


Azovstal ist für mich das größte Phänomen dieses Krieges, es fasziniert mich unglaublich, teils bricht es mir einfach das Herz, beruflich berührt es auch. Diese Menschen – und es gibt Tausende von ihnen – haben unglaubliche Dinge getan. Ich bin fasziniert, wie ihre Verwandten darauf reagieren, wie sie ihre Geschichten erleben, wie sie auf ihre Angehörigen aus russischer Gefangenschaft warten [im Mai 2022 verließen etwa 2000 ukrainische Soldaten Azovstal, die Redaktion], mit welcher Liebe sie damit umgehen. Wahrscheinlich hat mich Azovstal während des Krieges am meisten beeindruckt. Von den ersten Tagen an konnte ich gar nicht verstehen, wie sie sich dort durchgeschlagen haben, warum sie nicht früher herausgekommen sind. Ich verstehe eigentlich warum, habe mir aber so viele Fragen gestellt: Wenn ich oder mein geliebter Mensch an ihrer Stelle wären, wie würde ich mich verhalten? Was würde ich verlangen? Für mich ist das überhaupt etwas am Rande der menschlichen Möglichkeiten.

Ukrainischer Soldat auf dem Territorium von Azovstal
Foto: Dmytro Kozatskyi
Quelle: Hromadske

Du hast mir Verwandten gesprochen, was glaubst du warum das Militär das Werk nicht früher verlassen hat?

Ich denke, dass sie bis zuletzt damit gerechnet haben, dass ihr Abgang zivilisiert sein würde. So wie es sein könnte, wenn unser Feind nicht Russland wäre, sondern wenn es Menschen wären, die wenigstens einige Prinzipien haben. Sie haben gehofft, in das Gebiet eines Drittlandes gebracht zu werden. Außerdem glaube ich, sie haben bis zuletzt auf die Befreiung von Mariupol gehofft.

Was möchtest du deinen hessischen Kollegen mitteilen - dieses Interview wird für den Presseclub Wiesbaden aufgenommen. Die Menschen in Deutschland helfen sicherlich viel, aber gleichzeitig wird die Erhöhung der Kraftstoff- und Lebensmittelpreise sehr lebhaft diskutiert, ein kalter Winter ist auch möglich.

Ich verstehe, was zum Komfort gehört – wir alle hatten den auch in Kyjiw. Aber keine Krise, die nun die Europäer erleben, kann jemals mit der verglichen werden, die wir in der Ukraine haben. Ich bin derzeit bei meinen Eltern im Gebiet Dnipropetrowsk – in der Nacht hat es vier Alarme gegeben. Vier. Ich habe überhaupt nicht geschlafen, weil man es nicht kann... man steht alle paar Stunden auf und geht in den Keller. Die Unannehmlichkeiten der Europäer sind nicht mit dem zu vergleichen, was die Ukrainer derzeit erleben. Ich „mag“ wirklich die Formulierungen, die von einigen britischen und europäischen Medien ausgesprochen werden, dass es sich um einen „Krieg in Europa“ handelt. Der wahre Krieg ist in der Ukraine.
Wir müssen verstehen, dass die Hilfe, die uns in erster Linie unsere europäischen Partner leisten, sie auch für sich selbst leisten. Die Entfernung zwischen der Ukraine und Deutschland ist nicht so groß, wie es auf den ersten Blick zu scheinen mag, und was wir in diesen 150 Tagen in der Ukraine erlebt haben, hat gezeigt, dass die Russen keine Grenzen kennen, es gibt für sie nichts Unantastbares, Verbotenes. Ich bin absolut sicher, dass die Russen, wenn sie dafür die Mittel und Möglichkeiten hätten, in der Ukraine nicht Halt machen würden, und ihr Appetit, mit dem sie das Territorium der Ukraine betraten, war ja enorm.
Kyjiw lebt in der Erwartung weiterer Angriffe, das geht nicht weg, wir alle denken und sprechen darüber. Ich verstehe, warum Polen und die baltischen Länder uns so sehr unterstützen – weil sie die Risiken für sich selbst sehr gut verstehen. Die russischen Angriffe auf die baltischen Staaten und Polen würden bedeuten, dass dann die gesamte Europäische Union in diesen Krieg verwickelt wäre, auch wenn sie es nicht wollte. Die Unannehmlichkeiten in Deutschland sind mit den Toten, zerstörten Häusern, vernichteten Leben, die wir jeden Tag in der Ukraine erleben, nicht zu vergleichen.

Vermerk: Teilweise liegen die Materialien von „Hromadske“ in englischer Sprache unter https://en.hromadske.ua vor. Auch eine Übersetzung ins Deutsche ist geplant.


Yevheniya Motorevska, Chefredakteurin. Foto: hromadske

Yevheniya Motorevska, Chefredakteurin. Foto: hromadske

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